Boy Meets Girl

Endlich war sie allein. Kein Gespenst, kein Frosch, kein Hulk Hogan mehr in ihrer Nähe. Kein Riesensandwich, das sie zur aktuellen politischen Lage vollquatscht. Kein Donald Trump, der mit ihr “nach oben gehen” will. Sie stand allein am Buffet, den orangefarbenen Plastikbecher (bis zum Rand gefüllt mit Blutbowle) in der einen, eine unmögliche Menge von Salzstangen in der anderen Hand. Meine Zeit war gekommen. Die Gelegenheit war da. Die Würfel gefallen. Jetzt nicht zurückzucken, jetzt nicht den Schwanz einziehen, jetzt nicht schwach werden.
Ich ging rüber und stellte mich neben sie. Ich nahm das Schlachtermesser und schnitt mir eine Scheibe von dem roten Kuchen ab, der mit kleinen Totenköpfen aus Zuckerguss verziert auf einer schwarzen Tortenplatte thronte. Ich ließ es auf meinen Pappteller fallen, krümelte mir ein Stück ab und schob es mir in den Mund. Dann schluckte ich.

»Wie ist die Bowle, Mrs. Wallace?« fragte ich sie und lächelte dabei, so gut ich konnte.

Sie aber aß wie hypnotisiert ihre Salzstangen, schaute mit leerem Blick in die schauderhafte Menge hinein. Sie trug einen kurzen, schwarzen Bob mit einem strengen Pony. Eine Perücke, mit Sicherheit. An ihrem rechten Nasenloch war geronnenes Blut, das sich mit dem weißen Pulver vermischt hatte, das sich über ihre matten Lippen und ihr Kinn gelegt hatte, wie gesiebter Puderzucker über frischgebackene Vanillekipferl. Sie trug eine reinweiße Bluse mit überdimensioniertem Kragen, vermutlich ein Männerhemd (von ihrem Freund? Vater? Ex-Freund?) und in ihrer Brust steckte eine Spritze.

»Tolles Kostüm«, zwang ich mich zu sagen. »Pulp Fiction, toller Film.«

Ich sah mich schon auf lächerliche Weise davontrotten. Ich fühlte mich wie ein getretener Hund.

»Wenn ich du wäre, würde ich die Finger von dem Bananenbrot lassen«, sagte Mrs. Wallace, ohne mich dabei anzusehen.

Ich hörte auf zu kauen.

»Das ist Bananenbrot? Schmeckt irgendwie gar nicht wie Bananenbrot …«, sagte ich und starrte auf meine rot gefärbte Scheibe süßes Brot, von dem ich dachte, es sei ein Kuchen.

»Das liegt daran, dass ich mein Urin statt Milch genommen habe«, sagte Mrs. Wallace und fing an zu grinsen. Sie sah mir nun in die Augen. »Das macht ihn auch so süß.«

Ich für meinen Teil stellte den Pappteller auf den Tisch, rieb die Hände und räusperte mich.

»Du backst also gern«, sagte ich. »Ich bin Max.«

Ich streckte meine rechte Fellhand aus. Sie aber nahm sie nicht.

»Und was soll dein Kostüm darstellen? Pubertierender Yuppie?«

Ihre Salzstangen hatte sie aufgefuttert. Sie nahm einen großen Schluck Bowle und sah mich an. Ihre Augen waren voller Blitze.

»Ich bitte dich«, sagte ich. »Erkennst du es nicht?«

Ich zog meine mit billigstem Kunstfell besetzte Maske runter. Unter dem Ding konnte ich kaum atmen und hatte sie die meiste Zeit nicht auf dem Kopf gehabt. (Das heißt, ich hatte sie schon auf dem Kopf gehabt, nur halt nicht ‘auf’, ihr versteht schon.) Ich machte eine in meinen Augen ausdrucksstarke Pose, indem ich beide Hände, die in Wolfsklauenhandschuhen steckten, zusammenlegte und vor meinen Schritt parkte. Ich hatte einen dunkelblauen Dreiteiler an. Statt Einstecktuch trug ich mehrere Hundert-Dollar-Noten. Aus allen Taschen meines Anzugs kroch Geld, aus meinem zu weit geöffneten Kragen das falsche Brusthaar.

»Na?« sagte ich.

Sie sah mich ungläubig an.

»Ich bin der Werewolf of Wall Street!« sagte ich mit solchem Stolz, dass ich mich über mich selbst wunderte. Sie lächelte anerkennend und trat einen Schritt näher.

»Das ist doch kein echtes Geld, oder?« fragte sie mich und strich mit der Hand über mein Einsteckgeld. Ich stellte mir vor, wie ihre Finger über meine nackte Brust gleiten, wie ihre tiefroten Fingernägel sich in meine Haut bohren. Ich zog die Maske vom Kopf.

»Das ist natürlich kein echtes Geld«, sagte ich und zwinkerte. »Das ist doch kein echtes Koks, oder?«

Sie lachte und ich konnte sehen, dass sie ehrlich lachte. 

»Das ist natürlich kein echtes Koks.«

Die Blitze in ihren Augen waren verschwunden. Dann sahen wir uns an, ohne etwas zu sagen. Als hätten wir beide zeitgleich das Geheimnis des Lebens gelüftet, sahen wir einander an.
Dann sah sie weg. Sie öffnete ihren Mund, aber, um das vorwegzunehmen (ACHTUNG: SPOILER!), erfuhr ich bis heute nicht, was sie sagen wollte, denn in diesem Moment packte sie ein riesiges Baby von hinten an die Brüste, fing an, diese zu kneten und rief in abartiger Lautstärke: »Mami, Mami! Titti, Titti!«
Dann lachte und rülpste das Baby. Mia Wallace lachte zaghaft mit.

»Ah, ein Baby«, sagte ich zu dem Typen in der Windel. »Interessante Kostümwahl.«

»Ich bin nicht irgendein Baby, du Penner«, sagte das Baby. »Ich bin Rosemarys Baby. Klar?«

»Klar«, sagte ich und steckte Mrs. Wallace heimlich ein Lächeln zu. Sie rollte mit den Augen. »Wir sollten langsam abhauen, Jonathan«, sagte sie zu dem Pseudo-Säugling. Der aber riss sich von ihr los.

»Nein, Mami! Baby noch bleiben!« schrie er und rannte theatralisch auf die Tanzfläche, auf der seine gruseligen Freunde ihn mit männlichstem Bariton-Hahaha in Empfang nahmen. Meine Freundin mit der Spritze zwischen den Brüsten rollte erneut mit den Augen. Sie schämte sich. Ich sah ihr an, dass sie sich wegwünschte. Ich kenne dieses Gefühl, dachte ich und korrigierte mein Brusthaartoupet.

»Also dann«, sagte sie. »Ich werd mal mein Baby suchen und ins Bett bringen. War nett, mit dir zu plaudern.« Sie deutete ein Winken an und wollte gehen, als ich sie nach ihrem Namen fragte.
Sie trat wieder nah an mich heran, so dass alle meine Zellen deutlich wahrnahmen, dass sie nach einer schwer zu widerstehenden Mischung aus Alkohol, Salzstangen und Flieder duftete. Sie zog einen von den vielen Hundert-Dollar-Scheinen aus meinem Jackett und im nächsten Moment, die Spritze aus ihrer Brust. Wie smart, dachte ich. Sie hatte einen als Spritze verkleideteten Kugelschreiber bei sich gehabt, mit dem sie nun etwas auf den Schein kritzelte. Mich benutzte sie dabei als Schreibunterlage. Als sie fertig war, legte sie mir das Geld in meine schwarzen Pfoten, steckte sich die Spritze wieder ans Hemd und ging.

Ich sah ihr dabei zu, wie sie in der Party verschwand, wie sich ihr Körper im Getummel demanifestierte.
Ich sah mir den Geldschein an. Darauf zu sehen: eine Nummernfolge, von der ich stark annahm, dass es sich um ihre Telefonnummer handelte. Darüber, quer über Benjamin Franklins Gesicht, in naiven Großbuchstaben hingeschmissen und doch wie in Stein gemeißelt: MIA WALLACE.

Ich faltete den Schein sorgsam zusammen und steckte ihn in die Innenseite meiner Jacke. Dann nahm ich mir einen von den orangefarbenen Bechern und füllte ihn mit Bowle. Ich nahm einen guten Schluck. Auf einmal standen Beavis und Butt-Head neben mir und nahmen sich ein Stück von dem roten Kuchen, von dem ich jetzt wusste, dass es besonderes Bananenbrot war.
Ich schmunzelte in meinen Becher hinein und hatte das dringende Bedürfnis, in die Nacht hineinzugehen und den Mond anzuheulen.