Moira

Moira wachte auf dem Boden ihres Badezimmers auf. Ihr Hinterkopf tat weh und sie fror. Kaum dass ihr bewusst war, wer sie war und dass sie war, zog sie sich am Badewannenrand hoch und ließ sich in die Wanne plumpsen. Sie ächzte auf, weil es so kalt war. Im Sitzen zog sie sich das dünne Kleid und die Socken aus. Dann machte sie den Stöpsel auf den Abfluss und ließ sich ein Bad ein. Sie mochte es, den Anstieg des Wassers an ihrem Körper zu fühlen. Was sie gar nicht mochte, war, sich in eine bereits volle Badewanne zu setzen. So was konnte ihr den ganzen Tag ruinieren.

Es war aber niemand außer ihr da, der ihr den Tag hätte ruinieren können. Nur sie selbst hätte das tun können, und sie bemühte sich sehr, nicht die Person zu sein, die ihr den Tag ruiniert.

Während das sehr warme Wasser anstieg, merkte sie, dass sie zur Toilette musste. Sie musste nicht pinkeln - das hätte sie in der Wanne erledigen können. Sie versuchte es für einige Minuten zu ignorieren, doch der Drang in ihrem Hintern wurde immer stärker und irgendwann nicht mehr ignorierbar. Sie stand auf und setzte sich genervt und tropfend aufs Klo und verrichtete ihr Geschäft.

»Dass der Mensch kacken muss, ist so nervig«, sagte sie. »Aber auch so erleichternd.«

Es ist so komisch, dass wir in eine Schüssel kacken und die Kacke dann hinfort gespült wird, dachte sie. Wo geht die ganze Kacke von den ganzen Menschen hin? Wer hat sich dieses System ausgedacht? Alles ist selbstverständlich.

Sie lag wieder in der Wanne und sie betrachtete ihren unscheinbaren Körper. Ihre Brüste legten sich ganz platt an die Außenseiten ihres Oberkörpers. Moira dachte an Quallen, wenn sie am Strand liegen. Moira würde sich einer Brust-OP unterziehen, wenn sie das Geld dazu hätte. Es war sinnlos, darüber nachzudenken, denn in nächster Zeit würde sie nicht im Lotto gewinnen.

Ihr Magen knurrte und sie sehnte sich nach einem Kaffee und einer Zigarette, obwohl sie das letzte Mal geraucht hatte, als sie versucht hatte, sich mit Linda aus dem Buchclub anzufreunden. Sie hatten draußen gestanden und Linda hatte ihr eine angeboten, und weil Moira nicht unhöflich sein wollte, hatte sie die Zigarette genommen. Sie hatte gehofft, sie würden Freundinnen werden. Dafür hätte sie auch angefangen zu rauchen. Sie hätte so tun können, als würde sie schon unheimlich lange rauchen, seit ihrer Teenagerzeit, und dann sie und Linda dazu bringen, damit aufzuhören. Wenn Freundinnen zusammen mit dem Rauchen aufhören, dann schweißt sie das erst recht zusammen. Das alles erschien ihr logisch und es klang nach einem guten Plan, doch daraus wurde nichts. Linda war nicht interessiert an einer Freundschaft zu Moira. Moira hatte ihr einige Male Memes geschickt, doch auf diese hatte Linda nicht mal mit einem lachenden Emoji reagiert. Irgendwann bot sie Moira auch keine Zigarette mehr an, denn sie stand nach dem Buchclub vermehrt mit Nela zusammen. Sie schienen sich sehr gut zu verstehen, denn sie lachten viel und umarmten sich zum Abschied. Außerdem hörte Moira sie Dinge sagen wie »ich rufe dich an« oder »bis morgen«. Nachdem Linda im Buchclub außerdem geäußert hatte, dass sie dem neuen Roman von Bret Easton Ellis nichts abgewinnen kann, hatte Moira beschlossen, nicht mehr zu kommen und die irrsinnige Idee mit dem Buchclub ad acta zu legen.

Jetzt wünschte Moira sich jemanden, der ihr Kaffee an die Wanne brachte. Keine Linda, sondern einen John oder Daniel oder von ihr aus auch einen Lars. Der Lars in ihrem Kopf mochte ihre Brüste, er mochte es, dass sie auseinandergehen, wenn sie in der Wanne lag. Oder wenn sie auf dem Bett lag und er mit einer Hand ihre nicht mehr ganz so junge Brust massierte, während er mit seiner Zunge und Lippen ihre Klitoris stimulierte und sie damit zum Stöhnen brachte. Sie mochte, wie er das tat. Sie war in Lars verliebt, weil er ihr die Aufmerksamkeit schenkte, nach der sie sich all die Jahre so gesehnt hatte.

Nach dem Bad machte sich Moira selbst einen Kaffee mit ihrer billigen French Press von IKEA, weil Lars nicht da war. Lars hätte auch eine vernünftige French Press gekauft, da war sie sich sicher. Sie trank ihren Kaffee schwarz. Moira setzte sich dazu in ihren hängenden Sessel auf dem Balkon und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, das sie mit LSF 50 eingecremt hatte (sie machte sich mittlerweile Sorgen um ihre Stirnfalten). Es war ein sonniger Morgen im Mai. Moira musste nicht zur Arbeit. Moira musste nichts tun.

Wenn sie an die Arbeit dachte, wurde ihr schlecht. Deshalb dachte sie so gut wie gar nicht an die Arbeit und sie versuchte, die ekligen Gedanken achtsam vorbeiziehen zu lassen. Moira hatte gelesen, dass man unangenehme Gedanken zulassen muss. Wie einen Ohrwurm: Wenn man einen Ohrwurm los werden will, muss man sich den Song anhören. Dann ist der Ohrwurm weg.

Moira überkam ein großer Schwall Einsamkeit. Das leichte Lächeln auf ihren Lippen verschwand, ihre Mundwinkel zeigten Richtung Erdkern. Dass niemand da war, mit dem sie ihre Gedanken hätte teilen können, stimmte sie von jetzt auf gleich tieftraurig. Diese Art von Einsamkeit war fest in ihr verankert, und die Gedanken dieser Art konnte sie nur mit viel Mühe achtsam an sich vorbeiziehen lassen. Das ging nur oberflächlich, denn diese Gedanken waren mittlerweile ein Teil von ihr, verfleischlicht, wie ein Finger, Muskel oder Geschwür. Es war ein Schatten, der immer über ihr lag, selbst wenn die Sonne schien.

Moira beschloss, ein paar Sachen im Supermarkt zu besorgen, damit sie am Wochenende genug zu essen und zu trinken hatte. Sie hasste es, einzukaufen. Sie wünschte sich, John würde das für sie übernehmen.

Sie zog sich an und ging mit noch feuchten Haaren vor die Tür. Sie sah süß aus mit ihren Chucks, den High-Waist-Jeans und dem rot-weiß gestreiften Top aus 100 Prozent Baumwolle, unter dem sie keinen BH trug. Ihre Tasche hing unbeeindruckt vom Leben über ihrer Schulter, darin nur ihr Portemonnaie, ihr Schlüssel, ein Päckchen Taschentücher, ein Notizbuch, ein Stift und ihr Telefon. Insgeheim hoffte Moira, dass sie einen Mann kennenlernen würde, wenn sie keinen BH trug. Tatsächlich konnte im Obst-und-Gemüse-Bereich des Supermarkts ein junger Mann den Blick nicht von ihren Brüsten abwenden, was Moira aber eher unbehaglich stimmte. In Flirtlaune brachte sie das traurige Gesicht dieses Mannes jedenfalls nicht und sie versuchte, sich hinter ihrem Einkaufswagen und ihrer Tasche zu verstecken. Wieder einmal bereute sie ihre Lebensentscheidungen. Moira schickte ein Warum-immer-ich-Gott-steh-mir-bei-Gebet gen Himmel. Sie rollte mit den Augen und versuchte, sich auf ihre Einkaufsliste zu konzentrieren. Bei den Konserven war ein attraktiver Mann, vielleicht vierzig Jahre alt, der ihr sehr gefiel. Er beachtete Moira aber nicht, obwohl sie sich offensichtlich für die gleichen Bohnen interessierten. Er hatte dunkles, leicht angegrautes Haar und war sehr fokussiert auf seine Bohnen. Er las das Etikett der Konserve leise vor sich hin. Moira stand nur wenige Meter von ihm entfernt und wunderte sich darüber, dass jemand das Etikett einer Konserve las.

»Und, sind die gut?« hörte sie sich sagen. Sie wünschte sich, ein Adler würde sie jetzt sofort mit seinen großen Krallen vom Boden heben, in seinen Horst bringen und an seine Jungen verfüttern. Irgendwer zog ihre Mundwinkel Richtung Sonne.

Der attraktive Mann sah verdutzt auf. Er bemerkte Moiras lächelndes Gesicht und kombinierte, dass sie diejenige sein gewesen musste, die ihn angesprochen hatte. Er lächelte freundlich.

»Äh, ja, wie es aussieht«, sagte er. »Ich suche Bohnen ohne Zucker. In den meisten Konserven ist Zucker drin. In dieser hier ist kein Zucker drin, wie es aussieht.«

Moira befand sich nun in einem Gespräch und sie wusste, dass jetzt von ihr erwartet wurde, zu antworten. Es wäre ziemlich unangemessen von ihr, jetzt einfach kommentarlos eine Dose Bohnen zu nehmen und weiterzugehen. Ihr kam der Gedanke, dass man eine Konversation vor Konserven eine »Konservation« nennen könnte. Sie fragte sich, ob sie diesen Gedanken äußern sollte. Moiras Gehirn verneinte auf diese Frage. Das alles passierte in Sekundenschnelle.

»Ah, Zucker … Ja, Zucker ist nicht gut« sagte sie mit einem anerkennenden Kopfnicken.

»Ja, ich versuche so gut es geht darauf zu verzichten«, sagte der Mann. Er legte mehrere Dosen Bohnen in seinen Einkaufswagen.

»Dann nehme ich die auch mal«, sagte Moira und legte ebenfalls mehrere Dosen zuckerfreier Bohnen in ihren Wagen. Der Mann lachte und streckte seinen Daumen nach oben. Er rollte davon und Moira blieb leicht verunsichert im Bohnengang stehen.

An der Kasse sah sie ihn wieder. Eine ältere Dame war mit ihren Einkäufen zwischen ihnen. Er war bereits mit dem Bezahlen fertig, Moira musste ihre traurigen Einkäufe noch aufs Band legen. Sie hatte sich neben einigen gesunden Lebensmitteln auch Chips, Eis und sogar Wodka gegönnt. Sie wollte es sich dieses Wochenende gut gehen lassen. Mal nicht nachdenken. Vielleicht eine Show im Fernsehen gucken. Fünfe gerade sein lassen. Der Mann war sehr freundlich zur Kassiererin und er wollte den Kassenbon nicht haben. Moira hätte seinen Kassenbon gerne genommen. Sie hätte ihn in der Hand gehalten, während sie mit der anderen Hand die Innenseiten ihrer Vagina massiert hätte. Sie hätte sich vorgestellt, wie der Mann und sie gemeinsam Chips und Eis essen und eine Show im Fernsehen gucken. Beim gemeinsamen Kuscheln wäre eins zum anderen gekommen. Der Mann konnte sehr gut küssen. Sie lachten zusammen darüber, wie sie sich kennengelernt hatten. Sie hatten immer zuckerfreie Bohnen im Haus.

Moira sah den Mann ein weiteres Mal, draußen auf dem Parkplatz. Er packte seine Einkäufe ins Auto, als ihn ein anderer Mann ansprach.

»Lars, was machst du denn hier!« sagte der andere Mann zu Moiras Mann. Sie fingen an, sich zu unterhalten.

Moira ging an den beiden Freunden vorbei. Sie traute sich nicht, Lars anzuschauen. Er hatte eh nur Augen für seinen Freund.

Zuhause legte sich Moira auf den Teppich im Wohnzimmer. Die Tüte Chips lag neben ihr, im Fernsehen lief Baywatch. David Hasselhoff ist heiß, dachte sie. Sie nahm einen Schluck von ihrem Wodka Tonic. Draußen schien die Sonne. Keine Wolke zu sehen. Erst in der Nacht kamen einige Wolken aus ihren Verstecken, und einige von ihnen suchten die Nähe des fast vollen Mondes, vor den sie sich gemächlich schoben, nur um wenige Augenblicke später weiterzuziehen. Moiras Fernseher lief immer noch, die Show war zu Ende. Sie lag eingerollt wie eine Mohnschnecke auf dem Boden, ihre Füße waren kalt. Sie war zu müde gewesen, sich zuzudecken.

»Ich möchte Erinnerungen konservieren«, sagte sie zu Lars. »Stell dir vor, Lars … Zuckerfreie Erinnerungen! Die meisten Erinnerungen enthalten Zucker. Diese hier ist zuckerfrei. Lars, wenn du möchtest, zeige ich dir meine Brüste.« Moira zog sich das rot-weiß gestreifte Top aus und präsentierte dem verwunderten Lars ihren nackten Oberkörper. »Du bist schön«, sagte Lars und küsste sie leidenschaftlich. Moira fühlte die harte Beule in seiner Hose. Sie wollte ihn in sich zu spüren. »Wir gehen besser zu mir nach Hause«, aber sie konnte den Weg zu sich nach Hause nicht finden. Lars hübsches Gesicht konnte sie kaum noch erkennen, sie war nicht mehr in der Lage, ihm in die Augen zu schauen. Sein Lächeln verschwand, das Gefühl seiner Lippen auf ihren ebenso. Sie konnte sein Haar nicht mehr greifen, es war nicht mehr samtig und weich wie das Fell einer jungen Katze. Es war strohig und langweilig wie Teppichflusen. Dann nur noch Teppich um sie herum, und kalte Füße. Der Teppich nahm sie in sich auf wie ein Fangnetz. Der Fernseher lief immer noch, die Show war zu Ende.