Nichtschwimmer oder Das Gegenteil von Stolz

Ein Lust-/Frustspiel beziehungsweise eine kleine, fabelhafte Tragikomödie in drei Akten

P E R S O N E N

SIRENE
ZYKLOP
BETTELNDER PAN
GLEN HANSARD

ERSTER AKT

SZENE EINS: IN DER KNEIPE

SIRENE, ZYKLOP

SIRENE und ZYKLOP sitzen an einem der unzähligen Tische in einem momentan beliebten Restaurant. Die meisten Gäste befinden sich an diesem lauen Sommerabend auf der Terrasse im Licht der müde gähnenden Sonne, deshalb ist es im Saal selbst nicht sonderlich voll. Vor SIRENE steht ein halbvolles oder halbleeres Glas Rieslingwein, wie Sie es auch immer lesen mögen. ZYKLOP trinkt ein widerliches Warsteiner und isst eine Portion Tagliatelle mit Rinderfiletstücken.

SIRENE Na, ich bin jedenfalls außerordentlich entzückt, dass es zu diesem Treffen gekommen ist!

ZYKLOP (schmatzend) Ja, ich freue mich auch. (Schluckt hinunter) Auch wenn ich etwas Kummer hatte.

SIRENE Kummer? Aber weshalb denn?

ZYKLOP Ich wusste nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Ich habe keine besonders guten Erfahrungen mit so was.

SIRENE Mit so was?

ZYKLOP antwortet nicht, er lächelt nur und nickt dabei. SIRENE nimmt einen Schluck Wein.

SIRENE Ich für meinen Teil vermute, dass du so was noch nicht hattest. Ich bin nämlich vergeben, musst du wissen.

ZYKLOP legt die Gabel nieder und starrt sie eindringlich an. Selbst mit nur einem Auge gelingt ihm dies außerordentlich gut. Er kennt es ja nicht anders.

ZYKLOP Vergeben?

Er starrt nun auf SIRENEs rechte Hand, an deren Ringfinger wie urplötzlich ein goldener Ring aufblitzt.

ZYKLOP Du bist … vermählt?

SIRENE Ist das ein Problem?

ZYKLOP Nein, nein … Nur verwunderlich. Im ersten Moment. Ich verstehe nicht ganz …

SIRENE Man muss nicht alles verstehen. Wichtig ist, dass wir hier sind. Du. Ich. Hier. Findest du nicht?

ZYKLOP (nickend) Ja.

SIRENE Hat eigentlich schon mal jemand ein Auge auf dich geworfen? (zwinkert)

ZYKLOP Ha ha, sehr witzig.

SIRENE Sorry. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, in dem ich dir verfallen bin.

ZYKLOP Das sind keine Farfalle, das sind Tagliatelle.

ZYKLOP sieht von seinem Teller gar nicht auf, SIRENE schaut ihn irritiert an und nimmt einen weiteren Schluck Wein.

SIRENE Meine Mutter hat dich neulich gesehen und sie sagte mir, als ich ihr, während mein Vater Wein aus dem Keller holte, fix erzählte, dass du mir gefielest, da sagte sie mir, sie hätte dich neulich gesehen und dass du aussehen würdest wie ein Amant aus den Goldenen Zwanzigerjahren. Ich sage absichtlich »Amant«, so wie es sie es sagte, sie sprach es nicht französisch aus, sondern polnisch. Ich finde, sie hat recht. Was mir abgesehen davon sehr an dir gefällt, ist die Art wie du lächelst. So charmant, nachlässig, gütig, abfällig, verschmitzt, lausbübisch, irre und verwegen — ach, mir fallen so viele Begriffe für dein Lächeln ein! Und deine Lippen. Deine Lippen sind … formvollendet. Dein Auge ist prototypmäßig pazifikblau. Es erinnert mich an einen Bergsee in der Hohen Tatra, das »Meerauge«.

ZYKLOP lächelt auf die eben von SIRENE beschriebene Art und trinkt einen Schluck Bier.

SIRENE Dabei mag ich meine Eltern gar nicht mehr so, wie noch vor einiger Zeit. Aber manchmal haben sie ja recht, mit dem, was sie so erzählen, den lieben langen Tag, wie in diesem Fall meine gute Mutter. Ein schöner Bursche, sagte sie, aber schlag dir das aus dem Kopf. Ich weiß, ich weiß! Ich bin doch in festen Händen! Dumm bin ich auch nicht, ich bitte dich. Ich weiß schon. Ich erwarte nicht, dass irgendwer versteht. Darüber bin ich schon lange hinweg. Ich habe nur noch mich. Nur noch mich. Du ahnst ja gar nicht, was ich schon alles durchmachen musste. Ich wurde schon so oft misunderstood. Heutzutage macht sich kaum noch jemand die Mühe, jemanden zu verstehen, geschweige denn zuzuhören! Du bist ein guter Zuhörer, das muss man schon sagen. Selten im Leben trifft man auf jemanden, der einen sieht, wahrhaftig sieht, so wie er ist, findest du nicht? In dessen Gesellschaft man sich sofort gut aufgehoben fühlt, weil er über dich nicht urteilt. So etwas ist selten geworden in unseren Tagen. Die Menschen sind alle so … mit sich selbst beschäftigt. Nur mit sich selbst beschäftigt. Es ist so anstrengend. Es ist so anstrengend, neue, interessante Menschen kennenzulernen. Die Meisten sind so langweilig. Von dem Meinem fühle ich mich gesehen, ich liebe ihn bis ans Ende aller Tage dafür. Er ist wirklich ein gutaussehender Kerl und sehr talentiert. Ich prophezeie ihm eine große Zukunft in seinem Metier! Er weiß, dass er sich meiner Liebe sicher sein kann. Manchmal wünscht man sich dennoch neue Impulse im Leben, andere Gesellschaft, Erfahrungen anderer Art, Gespräche, die totgeglaubte Arreale im Gehirnfleisch aufglühen lassen, verstehst du …?

ZYKLOP Durchaus.

SIRENE Siehst du, ich wusste, du würdest mich verstehen.

ZYKLOP Rauchst du?

SIRENE Ich erzähle immer, ich würde nur rauchen, wenn ich trinke, dabei stimmt das überhaupt nicht. Nicht mehr. Ich mag es nicht zu sagen: Ich rauche! Denn es stimmt nicht. Also, ja ich rauche. Aber ich kann jederzeit aufhören. Ich bin nicht abhängig. Gewöhnliche rauchende Sterbliche sind ja meist abhängig. Die können nicht aufhören! Ich will nicht, dass jemand denkt, ich wäre Raucherin. Das bin ich nicht. Die denken dann, die ist Raucherin, verstehst du? Ich weiß nicht, warum mich das so nervt, aber es ist so. Ich rauche aber besonders gerne, wenn ich trinke, also ja, ich würde wohl mit dir nach draußen gehen, eine rauchen, falls du das mit deiner Frage, ob ich rauche, beabsichtigt hattest.

ZYKLOP Das hatte ich. Komm, gehen wir rauchen.

//

SZENE ZWEI: VOR DER KNEIPE

SIRENE, ZYKLOP

ZYKLOP und SIRENE stehen vor der Bar und rauchen.



SIRENE Ich fühl mich zittrig wie ein Heidekraut im Wind!

ZYKLOP Warum?

SIRENE Ach … Ich weiß nicht. Wegen unseres Gesprächs, denke ich. Was ich alles so erzählt habe. Ich glaube, das war dumm.

ZYKLOP Nein, ganz und gar nicht. Wie kann etwas dumm sein, was du erzählst?

SIRENE Jetzt schmeichelst du mir.

ZYKLOP Ich sage nur, wie es ist.

SIRENE Du sagst nur, wie du denkst, wie es ist.

ZYKLOP Ist das nicht das Gleiche?

Eine Weile herrscht Stille. Schweigend raucht das ungleiche Paar.

SIRENE (lächelnd) Warum starrst du mich so an?

ZYKLOP starrt und lächelt auf seine zyklopische Art und Weise, sein pale blue eye flackert durchdringend und mysteriös. Da SIRENE nicht weiter reagiert, wendet er sich schließlich ab und nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette.

ZYKLOP Sollen wir wieder reingehen?

SIRENE nickt. ZYKLOP verschwindet in der Kneipe, SIRENE folgt ihm. Doch bevor auch sie wieder in den gastronomischen Hallen verschwindet, dreht sie sich um.

SIRENE (ad spectatores) Habt ihr das gesehen? Ich glaube, das war der Moment, in dem wir uns hätten küssen sollen — ich habe ihn verpasst.

ZWEITER AKT

SZENE EINS: IN DEN STRASSEN

SIRENE, ZYKLOP, BETTELNDER PAN

SIRENE und ZYKLOP gehen durch die Gassen. Der volle Mond füllt die hohle Stadt mit fahlem Glanz. Die Trivialität des Tages ist verschwunden. ZYKLOP gibt mit seinen laut hallenden Schritten das Tempo vor und SIRENE hat Mühe, ihre Sehnsucht nach gemeinsamem Nachtflanieren zu unterdrücken. Mehr und mehr werden aber auch ihre anfänglich zaghaften Schritte ausschreitender und bestimmter, sodass irgendwann auch ihr Gang durch die Straßen hallt und das gemeinsame Gehen zu einem Marsch wird. Wie zwei Soldaten, die ihre Kompanie verloren haben, stapfen die beiden durch die all zu helle Nacht.

SIRENE Es steht relativ weit von hier.

ZYKLOP Kein Problem.

SIRENE Das ist sehr nett von dir.

ZYKLOP Kein Problem. — Eine herrliche Nacht! Sieh dir den Mond an! Warst du eigentlich schon immer du?

SIRENE Nein, früher war ich jemand anders. Jetzt bin ich besser als damals.

ZYKLOP Und was willst du später sein?

SIRENE Auch jemand anders. Noch besser als jetzt. Ich befinde mich aktuell in einer schwierigen Phase … Ich wusste lange Zeit nicht, wie ich meine Flügel richtig benutze. Das finde ich gerade heraus. Das ist sehr kräftezehrend. Oft bin ich so müde, dass ich vergesse, wer ich bin. Ich weiß zumindest, dass ich bin. Aber wer ich bin — no way. Geht dir das manchmal auch so? Mit deinem Auge vielleicht?

ZYKLOP Mein Auge? Nein. Meine Eltern sind auch Zyklopen und haben mich immer unterstützt und bestärkt. Sie haben mich dermaßen mit Urvertrauen verwöhnt, sodass ich jetzt keinerlei ernsthafte Probleme mit meiner Person habe, keinerlei Selbstzweifel oder Ängste. Ich bin selten grundlos traurig. Traurige, zweifelnde Menschen empfinde ich als unfassbar anstrengend — ich möchte sie schütteln und ihnen sagen: mach was! mach was!

SIRENE Findest du, ich bin traurig?

ZYKLOP Ein bisschen schon, oder?

SIRENE Kann ja nicht jeder ein ach so sorgloses Leben haben wie du.

ZYKLOP Sorglos würde ich jetzt nicht behaupten …

SIRENE Du bist sehr ernst. Fast humorlos. Ich fürchte, du magst mich nicht besonders. Ich verbringe trotzdem gerne Zeit mit dir. Auch wenn du mich leider Gottes bloß zu meinem Gefährt begleitest — ich genieße es. Es ist meine euphorische Art, die dich erzürnt, habe ich recht? Meine Euphorie hat mir schon einmal alles ruiniert. Ich erkenne nun ein Muster darin. Ein Muster im Leiden! Ich erkenne nun auch, wo dieses Muster seinen Ursprung hat, an welcher Ursuppe es sich jahrelang genährt hat. Es scheint also ganz so, dass es alles meines Vaters Schuld ist. Er hat mich nie in den Arm genommen, mir nie gesagt, dass er mich lieb hat … Es klingt so banal, nicht? Aber es stimmt. Er hat mich noch nie singen gehört, aber sagt, dass er stolz auf mich ist. Wie kann er aber stolz auf mich sein, wenn er doch gar nicht weiß, wer ich bin und was ich kann? Und nun falle ich jedem Mannsbild, das mir nur ein bisschen mehr als einen Funken Aufmerksamkeit schenkt, um den Hals und benehme mich wie ein Kind.

ZYKLOP hat aufmerksam zugehört, äußerst sich aber nicht.

SIRENE Liest du ab und zu ein gutes Buch?

ZYKLOP Natürlich, allein von Berufs wegen. Ich bin überaus belesen.

SIRENE Irgendwann werde auch ich mal ein Buch schreiben, und das wirst du dann lesen. Nein, warte! Erst wirst du es kaufen müssen — dann wirst du es lesen.

ZYKLOP So? Ein Buch?

SIRENE Ja. Kennst du den Schriftsteller B.? Ein wahrhaft großartiger Mann. Ich verschlinge seine Romane. Ich möchte eines Tages so schreiben können, wie er. Ich fürchte nur, ich bin schon längst besser als er.

ZYKLOP Warum fürchtest du immer?

SIRENE Wie kannst du sagen ‘immer’, du kennst mich doch gar nicht?

ZYKLOP Entschuldige. Es ist nur verwunderlich, warum du fürchtest, besser als jemand zu sein. Das ist absurd.

SIRENE Vielleicht ist es das. B. ist berühmt. Ich bin es nicht. Das ist alles.

ZYKLOP Noch nicht. Du bist noch nicht berühmt. Versprich mir, dass du nicht aufgibst.

SIRENE Ist versprochen.

Schweigend gehen die Beiden weiter. Der BETTELNDE PAN sitzt, an eine Hausmauer gelehnt und mit mehreren Decken bedeckt, und flötet auf seiner einfachen Blockflöte entspannt und glücklich die Melodie von »Unhappy Girl« von The Doors.

ZYKLOP Wenn du wie B. schreiben willst, solltest du da nicht so viele Männer wie möglich rumkriegen?

SIRENE Oh, ich glaube dazu bin ich nicht imstande. Siehst du denn nicht, wie gut ich darin bin? Gehen wir nicht gerade zu meinem Wagen? Peinlich für eine Sirene, findest du nicht? Ich habe schon so viele Kuriositäten in meinem Leben erlebt, dass ich davon ausgehen muss, dass es mein Schicksal ist, Männer in die Flucht zu schlagen. Nur einer ist bei mir geblieben — ein Wunder, möchte man meinen.

ZYKLOP Welch ein Unsinn!

ZYKLOP nimmt ihre Hand, zieht SIRENE zu sich und küsst sie. Nach dem Kuss vergräbt SIRENE ihr Gesicht in seiner Jacke. Eine kleine Weile stehen sie einfach nur da, Körper an Körper, bei hellichter Nacht. Dann lösen sie sich aus ihrer Form und ZYKLOP legt einen Arm um SIRENE und sie gehen weiter. Im Vorbeigehen wirft ZYKLOP dem BETTELNDEN PAN eine Münze in den Fedora.

ZYKLOP (zu Sirene) Du bist also vermählt! Welch außerordentliches Mischwesen du bist!

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SZENE ZWEI: IN DEN STRASSEN

BETTELNDER PAN

Der BETTELNDE PAN spielt weiter sein Lied, bricht aber jäh ab, als er eine Taube laut gurren hört.

PAN Ah! Hört ihr? Hört ihr das Gurren der Taube in der Nacht?
Warum gurrt die Taube in der Nacht?
Ist es, weil die Nachtigall nicht lacht?
Ist es, weil der Mond wie eine wilde Kugel durch die Fenster kracht?
Gefiedertes Vieh, was weiß das schon.
Sitzt auf einem Ast vom Baum wie auf einem Thron.

Der BETTELNDE PAN steht auf und geht umher. Seine haarigen Beine und Hufen kommen zum Vorschein. Um die Hüften trägt er einen Rettungsring.

PAN Unglückliches Mädchen, verlassen und eingesperrt,
Dein Zutritt zur Freiheit wie so oft verwehrt.
Doch das Gitter hast du dir selbst gebaut,
Kaltes Eisen auf deiner papierdünnen Haut.
Sieht er es weinen, schaut er nicht hin.
Verübeln? Nein. Warum? Wo denkst du hin?
Liebes Kind, spiel nicht den Wärter,
Warum machst du dir das Leben härter und härter?
Gib deiner Seele freien Lauf und
Nimm Blut und Narben mit Lust in Kauf.
Mädchen bleibt Frau, ob ohne Federn oder mit,
Das hier ist Wasser: that’s what we have to admit.
Nymphomanie und Ennui mischen sich im Wesen:
Du kannst einen Menschen doch nicht an einem Abend lesen!
Das Geheimnis ist: (zündet sich eine Zigarette an)
Weder du noch ich, gehören hier hin.
Der Sinn Lebens ist zu finden den Sinn!
Und eines Tages findest du, was du suchtest, in einem Gesicht.
Doch die Tragödie ist: das Gesicht — es sieht dich nicht.

DRITTER AKT

SZENE EINS: IM BETT

SIRENE, ZYKLOP

SIRENE und ZYKLOP liegen in ZYKLOPs Bett in ZYKLOPs Apartment. Beide sind unbekleidet. Beide rauchen. Sie schauen sich nicht an, während sie sprechen. SIRENE liegt auf dem Bauch, ZYKLOP auf dem Rücken. Offensichtlich hatten sie gerade außergewöhnlich guten Sex, denn sie haben rote Bäckchen und schauen ganz glücklich aus. Besonders SIRENE strahlt.

ZYKLOP Ich kannte mal eine Person, die hat mich verfolgt.

SIRENE Auf Schritt und Tritt?

ZYKLOP Auf Schritt und Tritt.

SIRENE Wie grausam.

ZYKLOP Ja.

SIRENE Und dann?

ZYKLOP Nichts. Es hat irgendwann aufgehört.

SIRENE Und jetzt bist du traurig.

ZYKLOP Sehr.

SIRENE Wünschst du, dass ich dich verfolge?

ZYKLOP Nein. Ich wünsche nie mehr verfolgt zu werden. Ich will verfolgen.

SIRENE Gut. Das würde ich nämlich auch nicht tun, nicht einmal für dich, mein keinzweiäugiger friend! Ich bin vielleicht rigoros romantisch, aber nicht geistig umnachtet.

ZYKLOP Das freut mich für mich.

SIRENE Als ich die Gelegenheit hatte, mit dir Französisch zu sprechen, da hatte ich plötzlich einen moralischen Herzanfall. Aber jetzt geht es wieder. Wir können zu späterer Stunde ein paar Worte auf Französisch wechseln, wenn du magst.

ZYKLOP D’accord.

SIRENE Lass uns über irgendetwas streiten.

ZYKLOP Wenn ich dich mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich sagen, du bist das Gegenteil von stolz. Allerdings kannst du enorm gut küssen.

SIRENE Ein Normaler sagt zum Genius: Du bist ein Genie! Sonst aber ein großartiger Einstieg für einen Streit.

ZYKLOP Ich habe mit unfassbar vielen Frauen geschlafen, eine nach der anderen außergewöhnlicher, aufregender und koketter als du.

SIRENE Nicht so gut, wie das davor, aber nicht übel, nicht übel. Hast du noch etwas? Keep your oneliners coming.

ZYKLOP Vielleicht solltest du kellnern, damit du nicht verkommst.

SIRENE Was für eine Gemeinheit.

ZYKLOP Genug. Wird dein Gatte nicht kommen und mir wehtun wollen? Sieh dir deine Hämatome an.

SIRENE Wenn ich will, dann macht er das.

ZYKLOP Willst du?

SIRENE Später vielleicht.

ZYKLOP Damit kann ich leben.

SIRENE Ich würde mir gerne deine Bücher ansehen, aber ich wage es nicht.

ZYKLOP Das wäre auch unfair. Deine Sammlung werde ich wohl niemals sehen, warum solltest du also meine Bibliothek erkunden dürfen?

SIRENE Ich fürchte, ich werde bald wieder an Melancholie leiden.

ZYKLOP Ah, du fürchtest schon wieder … Ich wusste nicht, dass du auch Orakel bist.

SIRENE Schon wenn ich nur leicht trunken bin, fühl ich mich beflügelt. Außerdem habe ich heute nichts gegessen.

ZYKLOP (setzt sich auf) Komm, lass dich noch mal vögeln, Vogelfrau.

ZYKLOP spreizt SIRENEs schöne Flügel auseinander. Das Licht wird gleißend hell. Dann ist es stockdunkel.

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SZENE ZWEI: IM GARTEN

SIRENE, ZYKLOP, GLEN HANSARD

Langsam aber sicher wird Schwarz zu einem matten Blau: der Morgen bricht an, der Mond ist blass. SIRENE und ZYKLOP sitzen unter einer volljährigen 2x1x2 m Bronzeskulptur von Thomas Schütte. Und was tun sie? Richtig. Sie rauchen.

ZYKLOP (gähnt) Ich muss schlafen. Fährst du mich nach Hause?

SIRENE (steht auf, geht ein paar Schritte und heult auf) Fuck!

SIRENE setzt sich wieder zu ZYKLOP, der sich das Auge reibt.

SIRENE Ich komme aus einer Familie von katholisch-nihilistischen Antinatalisten, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Miserabel. Miserabel fühle ich mich. Weißt du, wie das laufen wird? Das alles? Ich weiß es jetzt. Ich habe es gesehen, letzte Nacht. Ich hatte eine Vision. Ganz kurz ist die Antwort aufgeflackert und jetzt weiß ich es. Ich werde in stillster Stille da hinfahren, wo ich hingehöre und obwohl mir zum Schluchzen sein wird, werde ich es nicht tun. Ich werde dir Worte schicken, obwohl ich es nicht tun sollte, und du wirst mir bleiern antworten, obwohl du dich kaum noch an meinen Namen erinnerst. Lass doch mal einen Kaffee trinken. Ich kann dir nur grad nicht sagen wann. Aber hey, lass doch mal einen Kaffee trinken. Ich habe entsetzlich viel zu tun. Ich melde mich, wenn’s Luft gibt. Schönen Abend dir! Das wird deine Masche sein. Aber, aber! Vielleicht treffen wir uns noch ein Mal, und da werde ich zugeben, dass du mich »verwirrt« hast, und du wirst auch zugeben, dass du »verwirrt« bist, aber du offensichtlich aus einem anderen Grund, und das Treffen wird bei Weitem nicht so romantisch ablaufen, wie dieses hier, vermutlich auch, weil es ein Sonntag sein wird, und keine Freitagnacht, glaub mir, ich hab ein drittes Auge, und du nur Eines. Dann werde ich dir mehrere stupide Fragen stellen, aber nur, weil ich nicht anders kann, nur, weil ich in dir jemanden sah, der du wohl gar nicht bist, werde ich mich lächerlich machen, mich entblößen, mich vor dir unbedeckter zeigen als in jener Liebesnacht und es wird mich wütend machen, aber ändern werde ich es nicht mehr können, werde aus mir einen Idioten machen, wie man das halt so macht, wenn man seinen Kopf verliert, frag Hydra, frag Medusa! Meine Euphorie wird mich übermannen, und alles zerstören, was gewesen ist, nein, was hätte sein können, und bei dir wird es Klick! machen, oder Zack! und du wirst dichtmachen, zumachen, abschließen, mich abschießen, und das mit gutem Recht. Ich werde mich weiter bei dir melden, und jedes Mal, wenn ich das tue, ein weiteres Stück Würde verlieren, aber es wird mir egal sein, (gut, egal vielleicht nicht, aber was soll’s), denn ich spiele nicht und ich halte nichts von Spielen, wie du sie anscheinend zu spielen pflegst, ich stehe da drüber, ich bitte dich, ich bin eine Sirene. Alles, was ich werde tun wollen, ist mit dir im Reinen zu sein, aber du wirst es nicht zulassen, mich ignorieren, mich vergessen, absichtlich oder unabsichtlich, das Kapitel wird für dich nicht abgeschlossen sein, weil es nie eines gewesen ist, so, wie es für mich eines war: Mein erster Zyklop … Das wird dich nicht weiter kümmern, ein Weib wie das andere, Geezus, wen juckt’s. Get on with it, nicht wahr? Und so werde ich leiden. Mich verzehren, Dummheiten denken, phantasieren ohne End und Verstand, vielleicht werden Tränen fallen. Ich werde dich verfluchen, weil jeder Stein, jeder Strauch, jede street hier mich an diese Nacht erinnern wird und damit wohl oder übel auch an dich, und weiß Gott, ich bin oft hier, relativ oft, mindestens einmal die Woche, und mindestens einmal die Woche werde ich also denken: Hey, wäre es nicht schön, den Einäugigen anzucallen, ob er Lust hat auf einen Plausch, einen Rausch oder ein Bier im Tierpark. Ja weißt du denn nicht, werde ich dich in Gedanken fragen, dass du mir die Hand reichen musst, damit ich sie greifen kann, um mich aus Eros Armen lösen zu können? Also werde ich weiter Vergangenes sezieren, masturbieren, musizieren. Alles kaputtdenken. Sinnieren, dinieren, kapieren, trainieren, halluzinieren, justieren, konstituieren, konstellieren, diktieren, provozieren, verlieren, krepieren. Illusionieren, idealisieren, schmusen mit Kuscheltieren. Ausgehen, rausgehen, wieder reingehen, weggehen, eingehen. Mit Gestörten flirten. Zerkauen, verdauen, vertrauen. Kunst anschauen. Trinken. Kette für Kette rauchen und Schlimmeres noch, aber vergessen werde ich nicht können, und es werden die dunkelsten Tage sein, aber irgendwann wird auch der dunkelste Tag hell und dann wird es immer heller werden, heller, immer heller, bis der Strahl der Sonne auch den letzten Winkel meiner ach so stumpfen Seele erreicht hat. Dann werde ich gereinigt daraus hervorgehen, ich werde so viel über mich selbst gelernt haben, wie noch nie zuvor in meinem Leben und dir deswegen recht zu Dank verpflichtet sein. No hard feelings. Ich werde aus deinen scharfen Worten neugeboren werden, werde ihnen entspringen wie einst Athena dem Mund des Zeus (bekreuzigt sich). Wachgeküsst werde ich sein. Im wahrhaftesten Sinne. Sirene 2.0. Das Update wird die meisten Bugs beheben. Trotzdem: du einäugiger Dummkopf! Hast Gold gefunden und wirst es aussieben. Tu mir den Gefallen und denk an mich, wenn du mein Sternbild betrachtest. I don’t know you, but I’ll miss you. Also: nein. Die Antwort ist Nein. Ich fahre dich nicht nach Hause.

ZYKLOP ist längst eingeschlafen. Irgendwann steht SIRENE auf und geht. Kurze Zeit später kommt sie mit einer Decke wieder. Sie deckt ZYKLOP lieblos zu. SIRENE ab.

Gitarrenmusik erklingt. Hinter der Statue kommt Glen Hansard samt Gitarre hervor. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »GO HOME NOW«. Er singt seinen Song »Time will be the healer«. Hinter ihm fällt der Vorhang.

Sollte nach einem der Vorhänge eine Zugabe verlangt werden, singt und spielt Mr. Hansard »Nowhere Man« von den Beatles oder Simon and Garfunkels »Homeward Bound« — im Idealfall nachdem der ZYKLOP-Darsteller von Leuten im Publikum, die offensichtlich nicht zwischen Kunst und Realität trennen können, mit Rinderfiletstücken und (ungekochten) Farfalle beworfen wird.

FIN.