Sie nannten ihn Mücke

Als für mich das vierte Schuljahr begann, kam ein neuer Junge zu uns in die Klasse. Er hieß Adam Steinmayer, wie der Bundespräsident, nur mit A und Ypsilon, aber alle nannten ihn nur „Mücke“, wie in dem Bud-Spencer-Film, aber den kannte ich damals noch nicht, und die anderen Kinder sicher auch nicht. Ich weiß noch, wie er bereits am ersten Schultag von Hannes und Noah gehänselt wurde, weil er so blass war wie Schulkreide und leider Gottes auf seiner Nase ein dicker Mückenstich prangte, der durch die weiße Farbe seiner Haut nur noch mehr ins Auge stach.

„Bis morgen, Mücke“, riefen die Jungs ihm im Flur hinterher. Ich weiß noch, wie ich mit Sophia und Carla zusammenstand und wir darüber kicherten, obwohl ich mich nicht so richtig gut dabei fühlte, über einen Jungen zu lachen, der nichts getan hatte. Aber wie das halt so ist, wenn man jung ist – man möchte dazugehören, weshalb ich lieber mitlachte, als unter Umständen die nächste Mücke zu werden.

Adam war nämlich eigentlich ganz nett, wie mir in den nächsten Wochen klar wurde. Ich hatte nicht wirklich was mit ihm zu tun, aber wenn wir im Unterricht an etwas gemeinsam arbeiteten, war er immer bei der Sache und sogar sehr lustig. Aber er war wirklich sehr blass; ich traute mich nicht, ihn zu fragen, ob er vielleicht krank sei. Er hatte salbeigrüne Augen und braune, längere Haare. Er war lang und eher schmächtig und dabei einer der größten Jungs der ganzen Grundschule, aber die Größe allein brachte ihm eben nichts. Es sind immer die kleinsten Hunde, die am lautesten bellen. Und in der Schule beißen sie auch.

Im Unterricht selbst war Adam immer still. Selten meldete er sich, selten sagte er etwas. Er wirkte so, als wolle er die Zeit einfach nur absitzen. Ich mein, das wollten wir ja alle irgendwie, aber na ja. Auch die Pausen verbrachte er allein. Oft hänselten ihn die anderen Kinder bei jeder Gelegenheit. Die hässlichste Situation beobachtete ich kurz vor den Herbstferien.

„Was fressen Mücken denn so?“, hörte ich Hannes fragen. „Mückensuppe?“

„Scheiße, glaube ich. Mücken fressen Scheiße“, sagte Noah und schlug Adam dabei das Butterbrot aus der Hand. Es fiel dabei zu Boden. „Guck mal, deine Scheiße liegt da unten – lass dir schmecken!“

Lachend liefen die beiden Trottel davon, während Adam sein Brot aufhob und es einfach weiter aß, als ob nichts passiert wäre. Das Benehmen der beiden Jungs hatte mich zutiefst verstört. Ich hätte Noah am liebsten eine reingehauen – es machte mich fast schon wahnsinnig, dass Adam so cool reagierte und wollte ihn am liebsten schütteln: Du musst dich wehren. Du musst eines Tages zurückschlagen, sonst werden sie dich immer weiter quälen. Und dieser dämliche Spitzname, nur wegen dieses einen Mückenstichs auf deiner Nase!

Doch am ersten Schultag nach den Herbstferien erschien Adam noch blasser als vorher in der Schule. Außerdem war seine Haut übersät mit Mückenstichen: rote Punkte auf der Stirn, auf den Wangen, am Hals, auf den Armen. Die meisten von uns starrten ihn einfach nur an, doch Hannes und Noah konnten sich kaum noch auf ihren Stühlen halten, als sie ihre Zielscheibe, so wunderbar präpariert, erblickten.

„Alter … was ist denn mit dir passiert? Warst du bei deiner Familie in den Ferien?“, rief ihm Hannes hinterher. „Digga, mach mal was damit. Du siehst richtig scheiße aus, das sag ich dir so von Mann zu Mücke.“

Adam sagte gar nichts mehr. Er saß einfach nur noch da, apathisch, ohne Regung. Unsere Lehrerin war ratlos, aber sie schien auch nicht so richtig zu wissen, was zu tun ist. Ich fragte mich, ob sie jemals mit Adams Eltern gesprochen hat. Hielten sie vielleicht Mücken als Haustiere? Waren seine Eltern Mückenzüchter? Hatte er einfach schmackhaftes Blut? Ich versuchte mir einen Reim darauf zu machen, scheiterte aber an meinem eigenen kindlichen Verstand. Ich wusste nur, dass er mir leidtat und dass meine eigene Hoffnungslosigkeit mich fast auch in eine tiefe Traurigkeit gestürzt hätte, hätte ich nicht meine verständnisvolle Mutter gehabt, der ich oft von Adam und den Hänseleien erzählte. Irgendwann bemerkten die anderen Kinder, dass ich Adam mag und sie fingen an, mich ebenfalls zu ärgern.

„Na Lina, wann ist denn eure Hochzeit? Ich kann’s kaum erwarten, eure hässlichen Kinder zu sehen“, bekam ich eine ganze Weile von Hannes zu hören.

„Verpiss dich doch solange und guck in den Spiegel, wenn du was Hässliches sehen willst“, entgegnete ich ihm und schaute dann rüber zu Adam und versuchte ihm mit schamhaftem Blick zu signalisieren: Hier, so macht man das. Doch Adam schaute bloß in sein Mathebuch.

Er wurde immer dünner, und je dünner er wurde, desto mehr Stiche kamen hinzu. Adam versuchte, die unzähligen Mückenstiche mit seinen Langarmshirts und Jeans zu verdecken, doch spätestens im Sport- oder Schwimmunterricht sahen es alle. Und das Gesicht … Er konnte er sich ja schwer eine Tüte über den Kopf ziehen.

Dann war Adam nur noch selten in der Schule und irgendwann gar nicht mehr. Irgendwann schien es mir, als hätten die anderen Kinder ihn vergessen.

Eines Abends war meine Mutter mit ihrem neuen Freund im Kino und ich veranstaltete eine kleine Übernachtungsparty mit Sophia, Carla, Popcorn (salzig und süß) und einer ganze Menge Make-up. Als wir uns gegenseitig Rouge auf die Wangen auftrugen und den teuren Lippenstift meiner Mutter teilten, lenkte ich das Gespräch bewusst auf das Kind, das aus unserer Klasse einfach verschwunden war.

„Also ich fand ja Adam ganz süß“, sagte ich, während ich Sophia äußerst ungeschickt blauen Lidschatten auftrug.

„Mücke? Spinnst du?“, fragte Carla.

„Doch“, sagte ich. „Unter den ganzen Mückenstichen ist er ein wirklich hübscher Junge, find ich.“

„Wo steckt der eigentlich?“

Keine von uns wusste eine Antwort. Mit unseren bunt verzierten Gesichtern starrten wir einander an, und ich bin mir sicher, wir alle dachten dasselbe. Bis Sophia es aussprach.

„Lasst uns doch zu seinem Haus gehen und gucken, ob er da ist“, sagte sie und da meine Mutter noch mindestens eine Stunde weg sein würde, empfand ich diese Mission als das perfekte Abenteuer für meine Pyjama-Party. Wir zogen unsere Schlafanzüge auch nicht aus, sondern warfen uns unsere Mäntel über und schwangen uns auf unsere Fahrräder. Als wir an Adams Haus angekommen waren, warfen wir unsere Räder auf den Rasen und versteckten uns im Gebüsch gegenüber. Es war schon dunkel, die Luft roch nach Feuer und in Adams Haus brannte Licht.

„Und jetzt?“, fragte Carla.

„Keine Ahnung“, sagte ich. „Wir beobachten einfach das Haus, vielleicht sehen wir ihn ja durchs Fenster.“

Doch da öffnete sich schon die Tür, doch weil das Licht im Flur aus war, sah man nichts. Nur Dunkelheit. Eine halbe Ewigkeit stand die Tür offen, und wir trauten uns kaum zu atmen. Dann trat eine kleine Gestalt hinaus in die etwas hellere Dunkelheit des Draußens. Die Gestalt trug eine Art Beutel bei sich; erst konnten wir nicht erkennen, doch dann sahen wir es alle. Es war Adam, der den Müll rausbrachte. Er war viel kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, seine Arme und Beine noch schmaler und sein Gesicht war vor Mückenstichen kaum noch zu erkennen. Vernarbt, verpustelt war seine weiße Haut. Er sah furchterregend aus. Als er die Tonne am Straßenrand öffnete, um den Müll hineinzuwerfen, erstrahlte sein Gesicht im Schein der Laterne und in meinem Magen schien das Popcorn erneut aufzupoppen. Nase und Mund waren verschwunden, stattdessen ragte etwas Merkwürdiges, Längliches aus seinem Gesicht. Seine Augen waren nicht mehr grün, sondern schwarz. Er sah … leer aus.

„O mein Gott“, entfuhr es Sophia und ich klatschte ihr reflexartig und voller Wucht meine Hand auf ihren Mund. Doch es war zu spät. Adam drehte sich um schaute uns mit seinen hohlen Augen an. Und weil wir dumme Kinder waren, sprangen wir schreiend auf, schnappten uns unsere Fahrräder und verschwanden, zurück in die Sicherheit meines lächerlichen Mädchenzimmers.

Etwa zwei Wochen lang habe ich mein schlechtes Gewissen reifen lassen, dann fasste ich all meinen Mut zusammen und ging erneut zu Adams Haus, diesmal ohne mich zu verstecken. Es regnete, gelbe Eichen- und Kastanienblätter klebten wie Sticker auf den Pflastersteinen, die zur Haustür führten. Ich wollte mich nicht nur entschuldigen, sondern auch in Erfahrung bringen, wie es dem Jungen, den sie Mücke nannten, ging. Ich klingelte mehrmals, aber niemand öffnete. Ich versuchte, die Tür zu öffnen und siehe da, sie ging auf.

„Hallo?“, rief ich in das dunkle Haus hinein. „Ich bin’s, Lina. Ich wollte mich bei Adam entschuldigen.“

Zuerst war nichts als Stille zu hören. Doch dann: Drang von oben ein Poltern zu mir; dann ein leises Summen.

„Adam?“, rief ich. „Adam, bist du da?“

Ich ging die Treppe hoch und sah, dass Adams Tür offenstand. Sein Name und ein kleines Poster mit einem Ankylosaurus waren darauf zu sehen. Das Summen kam aus seinem Zimmer. Langsam ging ich darauf zu, das Summen lauter und lauter in meinen Ohren, und machte die Tür sachte auf.

„Adam? Ich bin’s, Lina. Alles ok bei-“, sagte ich und erschrak. Eine kleine, in sich versunkene Kreatur hockte auf Adams Bett. Transparente Flügel, mit braunen Adern durchzogen, ragten aus ihrem Rücken, und sechs dünne Beine wandten sich aus dem mickrigen, unebenen, wie von dunkler Leinwand und Haaren überzogenen Körper. Große, schwarze Augen starrten mich wie ertappt an. Ein schwarzer Rüssel streckte sich mir entgegen, doch noch bevor ich schreien konnte, rannte ich die Treppe hinunter, riss die Tür auf und lief, so schnell ich es mit meinen zwei Beinen konnte, nach Hause, und während ich lief, dachte ich an die sechs haarigen Beine und die gigantische Ekelmücke, deren Summen ich manchmal heute noch höre.

Abends lag ich natürlich wach und konnte nicht einschlafen. Meiner Mutter konnte ich nicht erzählen, was passiert war, bei aller Liebe. Bei allem Verständnis, das sie für meine Merkwürdigkeiten aufbrachte – nein. Tatsächlich hatte ich es nie jemandem erzählt, was ich gesehen hatte. Denn kurze Zeit später wurde Adam als vermisst gemeldet und leider Gottes nie wieder aufgefunden, und das hatte etwas mit mir zu tun.

Mom kam rein und sah mich mit weit aufgerissenen Augen im Bett liegen.

„Du schläfst ja noch gar nicht?“, sagte sie. „Und dein Fenster ist auf, dir ist doch kalt.“

Sie ging zum Fenster und machte es zu. „Nicht, dass dir noch eine Mücke ins Zimmer fliegt.“

Ich schlief dann doch irgendwann ein. Doch in der Nacht wachte ich auf und hörte wieder dieses Summen. Dieses verfluchte Summen …

Und da saß sie. Die Kreatur aus Adams Zimmer. Sie war jetzt nur noch viel kleiner, vielleicht etwas größer als eine LEGO-Figur. Sie saß auf meinem Arm, bereit um mit ihrem widerlichen Rüssel zuzustechen. Ich rührte mich nicht. Ich beobachtete das unheimliche Tier, während mein Herz zu bersten drohte. Die Mücke … sie strich sich wie voller Vorfreude über die Vorderbeine, dann putzte sie ihren Rüssel. Dann hielt sie inne. Zögerte sie? Doch dann sah ich, dass sie wohl ihren Entschluss gefasst hatte. Kurz bevor der Rüssel meine Haut durchstochen hätte, schlug ich mit aller Kraft das Geschöpf zu Brei; einem widerlichen, blutigen, abartigen Matsch. Sofort lief ich ins Bad und übergab mich. Dann mache ich mich sauber und übergab mich erneut. Den Rest der Nacht lag ich wach.

Kurz bevor der Wecker klingelte, fiel ich in einen nervösen Schlaf. Ich träumte von Adam, aber in meinem Traum war er ein ganz normaler Junge. Er war nicht mal sonderlich blass, sondern ganz normal eben. Wir waren ein Paar und gaben uns schüchterne Küsse auf die Wange. Ich sah uns auf seinem Bett liegen und lachen. Diesen Traum träume ich bis heute immer wieder. Und ich frage mich, was aus uns geworden wäre, wenn ich ihn nicht getötet hätte.

2025